Tagung 23.-25.11.2023: Hallescher und Herrnhuter Pietismus

Hallescher und Herrnhuter Pietismus im globalen Kontext: Theologien und Praktiken – Strategien und Konflikte

Ort:                             Halle/Saale

Veranstaltungsort:      Franckesche Stiftungen

Veranstalter:              Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckesche Stiftungen zu Halle, Bucknell University Lewisburg, Moravian Archives Bethlehem, Evangelisch-Theologische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Herrnhuter Brüdergemeine

Datum:                       23.-25.11.2023

Bewerbungsschluss    1.5.2022

 

In den letzten Jahrzehnten hat die Aufmerksamkeit der internationalen und interdisziplinären Forschung für den Halleschen und den Herrnhuter Pietismus erheblich zugenommen. Eine Reihe von Studien hat deutlich werden lassen, dass ein immanenter Teil beider Geschichten deren wechselseitige Verwobenheit darstellt – und zwar in regionalen als auch interkontinentalen Settings. Unterschiedliche Forschungsansätze in beiden Pietismusfeldern haben sich anregend auf den jeweils anderen ausgewirkt, doch sind noch immer viele Fragestellungen offen oder erst partiell bearbeitet und vor allem fehlt trotz erster Ansätze eine umfassendere und vertiefte – sowohl interdisziplinäre als auch internationale – vergleichende Perspektive.

 

Die Tagung will daher aktuelle übergreifende Forschungsansätze sowie Fragestellungen und Ansätze aus den Partikulargeschichten des Halleschen und Herrnhuter Pietismus aufgreifen und kritisch miteinander in Beziehung setzen. Sie will erkunden,

  • wo das historische Neben- und Nacheinander der beiden Pietismen zu vergleichenden Fragestellungen einlädt,
  • inwiefern Fragestellungen und Zugänge, die in einem der beiden Felder präferiert werden, auch für das jeweils andere fruchtbar gemacht werden können und
  • wie und in welchem Maße übergreifende Ansätze und Themen in vergleichender Perspektive bestehende Fragestellungen anreichern und vertiefen können.

Auch die Frage nach Wechselwirkungen zwischen Halle und Herrnhut sind von Interesse.

Wir gehen davon aus, dass das Verhältnis von Halle und Herrnhut mit Blick auf die Akteure und die Praktiken unter einer (offenen) Spannung von Nähe und Distanz, von Koexistenz, Konflikt und Konkurrenz stand. Ihr Verhältnis stellt sich in erheblichem Maß auch als Auseinandersetzung um politischen Einfluss, religiöse Deutungshoheit und öffentliche Wahrnehmung dar. Die VeranstalterInnen formulieren vor diesem Hintergrund die folgenden Dachthemen bzw. Forschungszugänge und erbitten dazu Referatsvorschläge – sehr wohl wissend, dass einzelne Aspekte und Themen bereits eingehender beforscht werden und diese untereinander vielfältig verbunden sein können:

 

Vergleichen als Praxis des Wertens

Die Tagung fragt nach den von den historischen Akteuren und Akteurinnen formulierten Kontrastierungen und Profilierungen durch Selbstbilder und Fremdzuschreibungen, nach ihren Funktionen sowie nach den Mechanismen ihres Funktionierens. Dabei spielten im 18. Jahrhundert für die unterschiedlichen thematischen Felder im Praxis- und Debattenhorizont, in dem Hallesche Pietisten und Herrnhuter aktiv waren, wie die Mission, die Ekklesiologie oder die Schulpraxis, Prozesse des Miteinander-vergleichens eine zentrale Rolle. Ziel dieses Vergleichens durch Gegenüber- und Gegeneinanderstellen war die Aufwertung der eigenen und die Abwertung der anderen Partei: Wer waren die wahren Frommen, wer war vertrauenswürdig auf dem Feld der Politik etc.? Der Vergleich als Praxis der Selbstvergewisserung und Zurücksetzung des Gegenübers (vor allem) im öffentlichen Raum war als ‚historische Heuristik‘ gleichsam inhärenter Bestandteil des kontroversen Umgangs beider Pietismen miteinander. Gefragt werden soll nach Medien, Semantiken, Zielen und konkreten Themen des Vergleichens als einer Praxis des Abwertens des Anderen und des Aufwertens des Eigenen im 18. Jahrhundert. Das in diesem Sinn historische Vergleichen als strategische Praxis der pietistischen Akteure und Akteurinnen soll aufgedeckt, benannt, analysiert und beschrieben werden. Darüber hinaus lädt dieser vergleichende Blick auf die Praxis des Generierens von Selbst- und Fremdbildern im 18. Jahrhundert (Hartmut Kaelble und Thomas Welskopp folgend) auch dazu ein, von der aktuellen Debatte, die von der Vergleichbarkeit von (Wissens-)Transfers, internationalen Verflechtungen, Emotionen und Emotionsregimes, Erfahrungen oder religiösen Praktiken ausgeht, methodisch grundsätzlich über das Wie und das Warum des Vergleichens von Halleschem und Herrnhuter Pietismus zu reflektieren.

 

Schriftlichkeit, Archivbildung, Erinnerungskultur

Sowohl die Herrnhuter als auch der Hallesche Pietismus haben eine reiche Überlieferung hinterlassen, die heute in den Archiven der Herrnhuter Brüdergemeine und in Bibliothek und Archiv der Franckeschen Stiftungen bewahrt, verwaltet, erschlossen und vermittelt wird. Dazu zählen vor allem die gedruckten Medien sowie die handschriftlich überlieferten Korrespondenzen und Selbstzeugnisse der Akteure und Akteurinnen, die über einen langen Zeitraum vorhanden sind.

In der Sektion wird danach gefragt,

  • in welchem Maße, nach welchen Kriterien und von wem Schriftstücke produziert, abgeschrieben, übersetzt, gesammelt und archiviert wurden,
  • welche Medien unmittelbar und bewusst zu unterschiedlichen Zielen eingesetzt wurden (Netzwerkbildung, Spendenwerbung, Mission, Imagepolitik),
  • welches Selbstverständnis und welche Geschichtskonzepte zur Archivbildung beitrugen und wie die Hallenser und Herrnhuter damit das Bild, das künftige Generationen von ihnen haben sollten, prägen wollten (Traditionsbildung und Erinnerungskultur),
  • wo es Anknüpfungspunkte zu den Critical Heritage Studies in vergleichender Perspektive gibt.

Ein anderer Schwerpunkt der Sektion bildet die Aufbereitung der Quellen mit den Methoden der Digital Humanities, ausgehend von dem Projekt „Moravian Lives“ und dem Projekt zur Erschließung und Digitalisierung von Lebens- und Selbstzeugnissen aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen.

 

Ekklesiologie und institutionelle Organisation

Die Reform von Kirche und Gesellschaft war ein zentrales Thema der pietistischen Erneuerungsbestrebungen, die in Halle und Herrnhut wirksam waren. In beiden Fällen bildeten sich neue ekklesiologische Modelle genauso wie neue Formen der Organisation kirchlichen Handelns heraus.  Dabei vollzogen sich Generalreform und Gemeindebildung, die Sammlung der Erweckten und die Verhältnisbestimmung zu Staat und Gesellschaft mit einem doppelten Geschichtsbezug: in kirchengeschichtlichem Rückblick auf die Ursprünge des Christentums und in heilsgeschichtlicher Erwartung von Gottes Reich. Wesentliche Fragen in diesem Themenfeld sind

  • Charakterisierung und Vergleich der jeweiligen ekklesiologischen Grundbegriffe und ihrer institutionellen Umsetzung

sowie davon ausgehend die Untersuchung spezifischer Einzelthemen:

  • Selbstverständnis und Traditionsbildung,
  • Mobilität und Netzwerkbildung,
  • öffentliches und nichtöffentliches Agieren,
  • Publizistik und Kommunikation,
  • Konfessionsbindung und Transkonfessionalität,
  • Verhältnis zu Obrigkeiten,
  • Umgang mit obrigkeitlichen Regulierungen und Restriktionen.

 

Frömmigkeitspraktiken, Bildung und soziales Engagement

Die Erfahrungsorientierung der pietistischen Reform zielte auf eine äußerlich erkennbare innere Erneuerung der Gläubigen. Dies implizierte eine Stärkung der individuellen und gemeinschaftlichen praxis pietatis, die partiell auch nonkonformistische Verhaltensmuster einschloss, neue liturgische Formen und Feiern sowie Bemühungen um einen wahrhaft christlichen Lebenswandel (Kirchenzucht, Lebensregeln und Anleitungen). Für die angestrebte grundlegende Erneuerung der Christenheit spielten insbesondere im Halleschen Pietismus pädagogische Bemühungen und soziales Engagement eine zentrale Rolle. Wesentliche Fragen in diesem Themenfeld sind in vergleichender Perspektive:

  • der Umgang mit Kirchenzucht, Lebensregeln und Frömmigkeitsanleitungen sowie gottesdienstliche Formen und Predigten,
  • Integration und Abgrenzung von enthusiastischen Phänomenen („begeisterte Mägde“, „Sichtungszeit“),
  • Bildungskonzepte und -institutionen (Schulformen) und ihre praktische Umsetzung hinsichtlich Zielen, Inhalten, Methodik und Reichweite,
  • die Bedeutung und Berücksichtigung sozialer Aspekte in Bildungskonzepten und -praxis,
  • die Verhältnisbestimmung von gelehrtem, akademischem Wissen und Erfahrungswissen einschließlich zugrundeliegender Traditionen und der praktischen Konsequenzen,
  • Konzepte und Praxis des sozialen Engagements in institutioneller und individueller Perspektive.

 

Emotions- und Körpergeschichte, Geschlechterverhältnis, Sexualität, Familie

Während zu den Themen Geschlechtsidentität, Familie, Sexualität, Gefühls- und Körpergeschichte in den jeweiligen Sphären der Halleschen und des Herrnhuter Pietismus bereits solide Forschung existiert, gibt es bislang nur wenige vergleichende Studien zu den Theorien und Praxen der beiden religiösen Gruppen in Bezug auf diese konzeptionellen Bereiche.

 

Wir begrüßen Vorträge, die aus einer vergleichenden Perspektive untersuchen:

  • das Verhältnis zwischen pietistischer Religion und der damit verbundenen Körpererfahrung,
  • Praktiken der Selbstregulation und emotionalen Disziplin,
  • Konstrukte von Geschlechtsidentität und konfessionellem Kontext,
  • Möglichkeit oder Interdiktion der interkonfessionellen, interkulturellen, und interethnischen Ehe,
  • Aufbau sozialer Strukturen und Praxis der Caritas,
  • medizinische Kenntnisse, Ausbildung und Praxis im Heim-, Diaspora- und Missionsbereich,
  • verkörpertes und konzeptionelles Queering.

 

Jenseits der europäischen Christenheit, Übersetzung und Transfer

Der Hallesche sowie der Herrnhuter Pietismus legten ein großes Interesse an Verkündigungsarbeit in außereuropäischen Gebieten an den Tag, die zu mannigfaltigen Begegnungen zwischen den Kulturen führte. Um sich mit Vertretern anderer Völker verständigen zu können, erforschten die Missionare Kultur und Sprache und verfassten Übersetzungen von wichtigen religiösen Texten. Durch diese Tätigkeit mussten sich die Missionare wie auch die Missionsverwaltungen mit Fragen des Kolonialismus, der Sklaverei und der globalen ökonomischen Beziehungen auseinandersetzen. In ihrer Missionsarbeit begegneten sie nicht nur anderen Völkern, sondern die Missionare waren manchmal auch mit Vertretern anderer pietistischen Strömungen konfrontiert. Es wird um Beiträge in vergleichender Perspektive zu folgenden Themen gebeten:

  • Agieren in Kontaktzonen, Umgang mit anderen Völkern,
  • Sklavereien und Ökonomie,
  • Verhältnis zu obrigkeitlichen Institutionen und politischer Macht,
  • Kolonialismus und Postkolonialismus,
  • Gemeinschaftsbildung über Grenzen hinweg: Strukturen, Kommunikation, Frömmigkeit und Rituale,
  • Überschneidung oder Nicht-Überschneidung von Missionsfeldern,
  • publizistische Darstellungen der Missionstätigkeit,
  • Übersetzungsarbeit, kulturelle Übersetzungen, Wirkungsgeschichte von Übersetzungsleistungen.

 

Sammlungen, materielle Kultur und Wissensgeschichte

Das globale Agieren des Halleschen und des Herrnhuter Pietismus eröffnete nicht nur neue Missionsräume, sondern zugleich bisher unbekannte Wissens- und Dingwelten. Beide Strömungen betrieben Wissenschaft auf höchstem Niveau, die von einem umfassenden Objekttransfer und vielfältiger Netzwerkbildung begleitet war, deren religiöse Bezüge jeweils zu hinterfragen sind. In diesem Feld wird um vergleichende Beiträge zu folgenden Themengebieten gebeten:

  • Bedeutung missionarischen Sammelns und pietistischer Sammlungen für die Wissens- und Wissenschafts- und Frömmigkeitsgeschichte,
  • Naturaliensammlung oder Wunderkammer – Raumkonzepte, Nutzung und frömmigkeitliche Dimension pietistischer Sammlungen,
  • Spenden, Patronage, Kommerz und Publicity – Sammlungsobjekte und ihre Funktionalisierungen,
  • Netzwerkbildung zwischen Frömmigkeit und der res publica literaria,
  • Vielfältigkeit missionarischen Sammelns und Objektgeschichten – von der Dokumentation nichtchristlicher Kulturen, fremdländischer Schriftzeugnisse und Ethnographika bis zu Naturalien,
  • missionarische Sammlungen als Bestandteil der materiellen Kultur des europäischen Kolonialismus.

 

Architektur und Räume

Architekturen und Raumorganisationen pietistischer Provenienz sind in den zurückliegenden Jahren mit unterschiedlichen Zugriffen und thematischen Fokussierungen (fromme Absonderung, planstädtische Gründungen, modellhafte Vorbildhaftigkeit) untersucht worden. Zugrunde lag dabei die Frage nach dem Zusammenhang von religiösen Gewissheiten, sozialen Bezugsfeldern und Raumordnungen. Dieser Zusammenhang erscheint fruchtbar, um das Zusammenspiel von (intendierter) Habitusprägung und innerer wie äußerer Raumgestaltung zu analysieren – diese Perspektive kann zudem dezidiert auf die Ebene einzelner Objekte und deren Rolle innerhalb von spatial settings bezogen werden. Daraus resultieren unterschiedliche Untersuchungsfelder:

 

  • Siedlungsentwürfe und Stadtplanungen,
  • Funktionalität und Ästhetik neu errichteter (oder auch umgestalteter) Gebäude und Gebäudeensembles,
  • Funktionalität und Ästhetik von Versammlungs- und Betsälen, Wissensräumen, Schulräumen, Krankenzimmern, Wohnräumen etc.,
  • neuangelegte oder umgestaltete Gärten – fromme Elemente bei Landschaftsgestaltung und adliger Repräsentation sowie in Hinsicht auf ökonomische Nützlichkeit,
  • materielle Kultur – Objekte und Dinge in den Räumen, in den Gärten und an den Gebäuden, die die Menschen mit den Räumen verbunden haben.

 

Kunst, Literatur und Musik

Lange Zeit galten die Pietisten, besonders die in Halle, als kunstkritisch bis kunstfeindlich. Das mochte auch an den Ein- und Auslassungen der historischen Akteure gelegen haben, vor allem aber an einem von der Forschung präferierten unhistorischen und normativen Begriff von autonomer Kunst. Legt man stattdessen ein pragmatisch modelliertes Konzept heteronomer Kunst bzw. von künstlerischen Ausdrucksformen und -strategien zugrunde, stellt sich der Sachverhalt anders dar. Ließen sich Literatur, Musik und Bildende Kunst funktional in Frömmigkeitspraktiken sowie in erzieherische und psychagogische Vorhaben für den Einzelnen und für die Gemeinschaft der Gläubigen nutzbar machen, wurde diese Kunst sehr wohl wertgeschätzt und nicht als Entfremdung von Gott und Veruneigentlichung des Frommen abgetan. Die Verinnerlichung, die Subjektivierung und Individualisierung sowie die Emotionalisierung des Selbst- und des Gottesbezuges im Pietismus sind wesentlich als Ergebnisse künstlerischer ästhetischer Anstrengungen, Sprachen und Formen zu betrachten. Folgende Fragestellungen bieten sich u.a. an:

 

  • Schreibkalender, Diarium und Tagebuch sowie Lebenslauf und Autobiographie als forensische Textsorten/Gattungen der Rechenschaftslegung, der (Selbst-)Plausibilisierung, der Schulung und Darstellung des frommen Subjekts,
  • Gedicht, Brief und Erbauungsliteratur als Medien zur Authentifizierung und Generierung von persönlicher, individueller Frömmigkeit,
  • Literatur und die Inszenierung von Exemplarität und Vorbildhaftigkeit des frommen Subjekts,
  • Affektschulung, Habitusprägung und Gemeinschaftsstiftung u.a. durch das geistliche Lied und die Kantate im Zeichen eines intensivierten Gottesbezuges,
  • Musik in der liturgischen, gottesdienstlichen Praxis,
  • Bildende Kunst und die Visualisierung und Inszenierung von Frömmigkeit,
  • Literatur, Musik und Bildende Kunst als Medien der persönlichen Andacht, der gemeinschaftlichen Erinnerungskultur und Traditionsbildung.

 

Wir werden breiten Raum für Diskussion schaffen. Die Vortragsdauer beträgt 25 Minuten. Tandemvorträge (2x25 Min.), die Halleschen und Herrnhutischen Pietismus thematisieren, sind herzlich willkommen. Reisekosten und die Übernachtungen in Halle werden von den Veranstaltern im Rahmen der üblichen Regeln getragen, sofern die Anträge auf Förderung Erfolg haben. Vorschläge für Vorträge (max. 300 Worte) und einen kurzen Lebenslauf (CV) erbitten wir bis zum 30. Mai 2022 (verlängert) an sekretariat-breul@uni-mainz.de

 

Christer Ahlberger, Göteborg

Wolfgang Breul, Mainz

Katherine Faull, Lewisburg

Brigitte Klosterberg, Halle

Thomas Müller-Bahlke, Halle

Paul Peucker, Bethlehem

Thomas Ruhland, Halle

Christian Soboth, Halle

Peter Vogt, Herrnhut

Holger Zaunstöck, Halle