75 Jahre Evangelische Theologie in Mainz (22. Mai 2021)

Motto der Johannes Gutenberg Universität Mainz im Auditorium maximum

 

Über viele Jahrhunderte war Mainz mit dem Erzbischof als Reichserzkanzler das Zentrum der katholischen Kirche im Alten Reich gewesen. Die Einbeziehung der evangelischen Theologie in die Gründung der neuen Universität war daher alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Sie verdankt sich nicht unerheblich dem Engagement der damaligen städtischen Führung und sie ist eng mit der Bildungs- und Religionspolitik der französischen Besatzungsmacht im Nachkriegsdeutschland verknüpft.

"Ut omnes unum sint" – das Motto aus dem Johannesevangelium (17,21), das die Gründergeneration über die wieder erstandene alma mater stellte, blieb sicher vielerorts ein frommer Wunsch. Auch die Entwicklung der Evangelisch-Theologischen Fakultät war von Beginn an und bis in die Gegenwart von heftigen Konflikten geprägt. Doch hatte das Motto auch einen ökumenischen Sinn. Das gute Miteinander von evangelischer und katholischer Theologie und gelegentliche gemeinsame Lehrveranstaltungen ist eines der besonderen Merkmale Mainzer Theologie. Die Startvoraussetzungen beider Fakultäten waren jedoch höchst unterschiedlich. Während man auf katholischer Seite bei der Gründung auf eine unbeschädigte kirchliche Struktur und das Personal des Priesterseminars zurückgreifen konnte, war auf evangelischer Seite nicht einmal klar, wer eine federführende Rolle übernehmen konnte. Die ersten Schritte kamen hier von der französischen Besatzungsmacht.

Sie zog auch beim Aufbau der Evangelisch-Theologischen Fakultät Personen heran, von denen sie sich eine Förderung der Demokratie versprach. Marcel Sturm (1905-1950), Nachfahre des für die Straßburger Reformationsgeschichte wichtigen Jacob Sturm (1489-1553), oberster Militärseelsorger für die Protestanten in der französischen Armee, stellte die Kontakte zwischen der Besatzungsverwaltung und Gouverneur Pierre König (1898-1970) und den protestantischen Kirchen in Frankreich und Deutschland her.

Die eigentliche Anbahnung des Gründungsprozesses lag jedoch bei General Pierre Jacobsen (1917-1957), dem Delegierten des französischen Militärs für die Region Rheinhessen, wie Sturm ein Protestant. Jacobsen nahm Kontakt mit Martin Niemöller (1892-1984) auf, den es wenige Monate nach Kriegsende aufgrund seiner Kontakte zum Grafenpaar von Isenburg-Büdingen mit seiner Familie in das dortige Schloss verschlagen hatte.

Martin Niemöller im April 1945 inmitten einer Gruppe befreiter NS-Gefangener im Hotel Prager Wildsee (Foto: unbekannt), 7. von links (mit Pfeife), links neben der Person mit Hut. 

 

Niemöller legte binnen weniger Tage eine Liste zur Besetzung der neuen Fakultät vor, obwohl ihm eine engere Bindung zur akademischen Theologie fehlte. Niemöller Liste nannte für jedes der fünf Hauptfächer der evangelischen Theologie drei Namen und ließ mit Ausnahme der Kirchengeschichte durchaus ein gewisses Qualitätsbewusstsein erkennen. Mit der eigentlichen Berufungsarbeit aber wurde Reinhard Becker (1897-1980) beauftragt, der erst wenige Monate zuvor vom Dorfpfarrer im rheinhessischen Albig zum amtierenden Superintendenten befördert worden war.

Als Becker nach sechs Wochen Tätigkeit am 1. April 1946 Bilanz zog, war das Ergebnis mager. Von den 15 Namen auf Niemöllers Liste hatte nur einer zugesagt. Der aber erwies sich als Glücksgriff. Denn mit dem Gelsenkirchener Pfarrer Ernst Käsemann (1906-1998) konnte man einen der später bedeutendsten Nachkriegsexegeten für die Mainzer Fakultät gewinnen. Im übrigen aber musste Becker Absagen verzeichnen. Etablierte Professoren zogen andere Universitäten vor und die Vertreter der Bekennenden Kirche, die man angefragt hatte, wollten ihre vergleichsweise sicheren kirchlichen Ämter nicht für die unsichere Professur in Mainz aufgeben. So entschieden sich Niemöller, Jacobsen und Becker bei einem Treffen im Albiger Pfarrhaus dafür, neben Käsemann lediglich einen Gründungsdekan zu berufen und die übrigen Fächer durch Lehraufträge versehen zu lassen.

Für diese Aufgabe fragte Niemöller den Berliner Pfarrer Wilhelm Jannasch an. Der aus der Herrnhuter Brüdergemeine stammende Jannasch hatte wegen seines Engagements für die Bekennende Kirche 1934 seine Lübecker Pfarrstelle verloren und anschließend für deren Vorläufige Kirchenleitung in Berlin gearbeitet. Jannasch war 1927 mit einer kirchengeschichtlichen Arbeit promoviert worden, hatte aber auch ein starkes Interesse an liturgischen Themen. In Mainz übernahm er die Professur für Praktische Theologie, ohne seine kirchengeschichtlichen Neigungen aufzugeben.

Mit Jannaschs Unterstützung gelang es in den Wochen bis zur Gründung der Universität Lehraufträge und Gastvorlesungen einzuwerben, sodass im ersten Semester alle Hauptfächer der Theologie unterrichtet werden konnten. Den etwa 30 Studierenden des ersten Semesters stand allerdings nur ein Seminarraum "mit leeren Bücherborden" zur Verfügung. Innerhalb von nur zwei Jahren stieg jedoch ihre Zahl auf fast 350 an, darunter auch einige Frauen, obwohl für sie noch fast nirgends eine berufliche Perspektive bestand.

Eine etwas ausführlichere Darstellung findet sich in der Festschrift zum 75jährigen Jubiläum der Fakultät. Die Anfänge der Systematischen Theologie kann man in der Festschrift für Walter Dietz (2020) nachlesen. 

  • 75 Jahre Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Universität in der demokratischen Gesellschaft, Mainz 2021.
  • Fides quaerens intellectum. Festschrift für Walter Dietz. Hg. v. Jutta Koslowski und Thorsten A. Leppek, Leipzig 2020.
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